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Analyse der Disruption

25 Juli 2022
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Disruption. Ein Begriff, den man viel zu häufig hört. Früher verstand man darunter junge Unternehmen, die mit intelligenten digitalen Lösungen die bestehende Ordnung ins Wanken brachten. Seit Beginn der „Roaring Twenties“ dieses Jahrhunderts wird der Terminus vor allem als Synonym für Störungen oder sogar Chaos in der Logistikbranche verwendet. Es wird fieberhaft daran gearbeitet, die Situation zu normalisieren. Eine Runde über die Rotterdamer Gelände auf der Suche nach Ursachen und Lösungen.

Container am RWG-Terminal

Hans Nagtegaal ist Director Containers beim Hafenbetrieb Rotterdam und präsentiert seine Analyse mit großer Leidenschaft. „Störungen sind selbstverständlich nichts Neues. In der Logistik werden wir ständig mit Nebel, Sturm oder Streiks konfrontiert, die eine ganze Region zum Erliegen bringen können. Allerdings waren diese Störungen bisher immer zeitlich und geografisch begrenzt. Man konnte sie auffangen. Corona war die erste weltumfassende Störung, die für längere Zeit andauerte. Außerdem haben solche Störungen, unter anderem aufgrund der Hochskalierung, immer weitreichendere Folgen.“

Als Reedereien 2020 nach den ersten massenhaften Lockdowns mit einer plötzlich sinkenden Nachfrage und düsteren Zukunftsaussichten konfrontiert wurden, beschleunigten sie anfänglich die Anfuhr zu den Abwrackwerften. Dadurch konnten sie nicht nur Unterhaltskosten sparen, sondern durch den Verkauf von Schrott auch eine höhere Liquidität, die als Puffer dienen sollte, um die erwartete Krise zu überstehen. Allein im dritten Quartal 2020 wurden an Standorten auf der ganzen Welt 170 Frachtschiffe verschrottet.

Vollkommen überflüssig

„Auch wir haben im März 2020 die Kapazität und das Personal bedeutend reduziert“, erklärt Cuno Vat, CEO von Neele-Vat Logistics. Das Unternehmen besitzt zehn Distributionszentren mit einer Gesamtfläche von 256.000 Quadratmetern in der Nähe der Containerterminals von Rotterdam und Amsterdam. „All das, um zwei Monate später dahinterzukommen, dass diese Maßnahme nicht nötig gewesen wäre. Die Handelstätigkeiten gingen nach einem kleinen Tief einfach weiter …“

„Während der Lockdowns erlebten zum Beispiel Gartenmöbel und Heimwerkermaterialien einen richtigen Boom“, erläutert Rogier Spoel, Senior Policy Manager Luft- und Seefracht bei evofenedex. „Verspätungen, unter anderem aufgrund von Quarantänemaßnahmen, und weniger Transportkapazitäten, verursachten einen Kaufabbruch in den Geschäften. Das zog in kurzer Zeit eine Mentalitätsänderung im Einzelhandel und auch in der Industrie nach sich. Just-in-time wurde zu just-in-case.“

Kees Groeneveld, Vorsitzender des Verbands der Rotterdamer Schiffsmakler, schließt sich dieser Beurteilung an. Die Mitglieder des Verbands stellen über 90 % der Hochseeschiffe, die den Rotterdamer Hafen anlaufen. „Während Corona wurde sogar mehr bestellt. Viele Geschäfte waren geschlossen und konnten Ihre Lagerbestände nicht verkaufen. Gleichzeitig wurden teilweise neu gegründete Webshops plötzlich mit einer erhöhten Nachfrage konfrontiert. Da die Disruptionen zu diesem Zeitpunkt bereits erkennbar waren, bestellten die Leute immer mehr und immer früher. Das sorgte wiederum dafür, dass sich die Lagerhallen immer mehr füllten.“

Unter Hochspannung

„Alles in allem ist eine Situation entstanden, in der das gesamte System unter extremer Spannung steht“, erzählt Cuno Vat, der unter anderem Vorsitzender von Fenex ist, dem Verband von Spediteuren und logistischen Dienstleistungsunternehmen in den Niederlanden. „Unabhängig davon, ob es sich um Reedereien, Terminals, Lagerhallen, die Binnenschifffahrt oder die Beförderung von Waren mit dem Lkw oder dem Zug handelt. Schon eine geringe Störung verursacht jetzt jedes Mal einen Schneeballeffekt, weil die Kapazitäten keinen „Spielraum“ mehr bieten.“

Gründe für Verspätungen hat es in letzter Zeit mehr als genug gegeben. Von der Blockade des Suezkanals durch die „Ever Given“ bis hin zu zusätzlichen Lockdowns und Quarantänemaßnahmen in China. Von Stürmen in Kalifornien über den russischen Angriff auf die Ukraine bis hin zu den Streiks des Hafenpersonals in Deutschland.

Verweilzeiten

Hans Nagtegaal vom Hafenbetrieb nimmt sein Dashboard mit den aktuellsten Zahlen für 2022 zur Hand. „Gut 5 % mehr volle und leere Container nach und aus Asien. Was das Volumen betrifft, ist eigentlich alles halb so schlimm, aber die Verspätungen bereiten uns allen Kopfzerbrechen. Containerschiffe haben die Runde Asien-Europa-Asien früher in siebzig Tagen zurückgelegt, jetzt brauchen sie hundert Tage dafür. Auch die Verweilzeiten, also die Zeiten, in denen Container auf eine logistische Abwicklung warten, sind beträchtlich gestiegen. Von früheren vier auf aktuelle zehn Tage, allein schon an den Tiefseeterminals.“

„Aus diesen Gründen sind die Terminals bei uns überfüllt“, erklärt Rob Bagchus, der bei ECT arbeitet und Vorsitzender des Verbands der Rotterdamer Terminalbetreiber ist. „All die Container, die länger an den Terminals stehen, nehmen Platz in Anspruch. Das gilt nicht nur für die Tiefseeterminals, sondern auch für die Binnenschifffahrtsterminals und andere Lager- und Transportkapazitäten. Dabei läuft es bei uns in Rotterdam sicher nicht schlechter als in den umliegenden Häfen. Es geht eigentlich gar nicht so sehr um die Engpässe im Hafen selbst, wie es oft in der Zeitung steht, sondern vielmehr um die Disruption in der gesamten logistischen Kette.“

150 Milliarden Euro

Hinzu kommt, dass die Knappheit auch noch eine andere Seite hat. Die Tarife sowie die Einträglichkeit sind im gesamten Sektor erheblich gestiegen. In diesem Zusammenhang werden auffallend oft die Reedereien unter die Lupe genommen. Spoel von evofenedex: „Sie haben im letzten Jahr einen Rekordgewinn von zusammengenommen 150 Milliarden Euro erzielt. Dieses Jahr wird er doppelt so hoch ausfallen. Die Reedereien fristeten freilich längere Zeit ein kümmerliches Dasein, aber die Verluste wurden inzwischen zweifellos ausgeglichen.“

VRC-Vorsitzender und Managing Director von Euro Nordic Logistics Kees Groeneveld bestreitet diese Aussage allerdings teilweise. Er behauptet, dass diese Entwicklung für mehrere Parteien in der Kette gilt. „Viele Unternehmen in der Logistikbranche wurden in der Vergangenheit finanziell ziemlich ausgequetscht, aber auch sie haben die Knappheit zum Anlass genommen, um Tarife und Einträglichkeit maßgeblich hochzuschrauben.“

Containerschiff am Terminal-Kai

Wunderwaffe

Nagtegaal ist der Meinung, dass dieses Problem nicht von einer einzigen Partei gelöst werden kann. Alle und jeder müssen Zugeständnisse machen. „Viele haben immer noch die Einstellung: ‚wenn der andere etwas verändert, kann ich so weitermachen wie bisher‘. Das muss sich ändern und genau aus diesem Grund wollen wir als Hafenbetrieb sektorspezifische Besprechungen anregen.“ Cuno Vat ist ganz seiner Meinung. „Man muss miteinander ins Gespräch kommen. Es gibt weder eine Sofortlösung noch eine Wunderwaffe. Ich glaube beispielsweise, dass man die Gewinne noch erheblich steigern kann, wenn man die Kapazitäten besser nutzt. Es kann mehr in den Abend- und Nachtstunden sowie am Wochenende gearbeitet werden. Diese Zeiten sind aktuell unterbesetzt. Das bedeutet, dass man kreativ und konstruktiv zusammen nachdenken muss. Zum Beispiel über Investitionen in saubere und geräuscharme Transportmöglichkeiten, damit Geschäfte in der Innenstadt nachts beliefert werden können. Es muss auch überlegt werden, wie man die zusätzlichen Personalkosten für Nachtarbeit und Schichtdienste gemeinsam tragen kann, damit der Sektor als Ganzes von der höheren Liefersicherheit profitiert, die man mit einer effektiveren Streuung erzielt.“

„Zuverlässigkeit ist unser wertvollstes Gut“, fügt Bagchus hinzu. „Wir sollten damit untereinander nicht so unverbindlich umgehen. Wir als Terminals haben mit der Binnenschifffahrt gute Vereinbarungen über „feste Zeitfenster“ und andere Konzepte getroffen. Dasselbe gilt für Lkw-Terminsysteme.“

Spoel möchte dieses System deswegen auf die Häfen ausweiten. „Heutzutage werden Reedereien gar nicht oder kaum von den Häfen darauf angesprochen, wenn sie zu spät eintreffen. Man befürchtet, dass die Reeder daraufhin einen anderen Hafen anlaufen würden. Hafenbetriebe in Nordwesteuropa sollten in diesem Zusammenhang mehr an einem Strang ziehen. Das macht einen großen Unterschied.“

Häfen spezialisieren

Spoel hat im Namen von evofenedex übrigens noch einen weiteren Tipp. „Die Häfen müssten sich viel mehr spezialisieren. Nicht alles mitnehmen wollen, sondern sich auf bestimmte Güter konzentrieren und dafür den effizientesten An- und Abtransport ins Hinterland organisieren. Im Hinblick auf Rotterdam kann man sich übrigens auch fragen, ob all die Durchfuhr- und Umschlagstätigkeiten eigentlich so eine schlaue Idee sind. Dadurch steht die logistische Kette unter starkem Druck, während der Mehrwert sich für uns als Land und Gesellschaft sehr in Grenzen hält.“

Alle Befragten sind sich darüber einig, dass man im gesamten Sektor für mehr Einblick in die einzelnen Glieder des Logistikprozesses und deren Planung sorgen muss. Kees Groeneveld: „Wir müssen uns gegenseitig viel mehr Daten zur Verfügung stellen. Nicht alles als vertraulich abstempeln. Reeder müssen beispielsweise den Terminals mitteilen, was ihr ‚Second Move‘ ist, damit sich die Terminals darauf einstellen können und die Warenströme vorhersehbarer werden.“

Kleinlich

Cuno Vat: „Zu viele Parteien spielen noch mit verdeckten Karten. Es ist unglaublich schwierig, an Informationen zu kommen, die einem einen Einblick in den gesamten Prozess verschaffen.“ Hans Nagtegaal verweist in diesem Zusammenhang auf NextLogic und Portbase. Diese Art von digitalen Plattformen und Planungs-Tools bringen uns als Sektor weiter. Das müssen wir ausbauen, anstatt uns hinter Ausreden zu verschanzen, wie ‚wir haben keine Implementierungskapazitäten‘ oder ‚solche Informationen stellen wir nur auf unserer eigenen Website zur Verfügung‘. Letzteres, um die Anzahl Klicks auf der eigenen Website zu erhöhen. So kleinlich geht es manchmal zu.“

Selbstverständlich soll auch die Erweiterung der Kapazitäten Erleichterung verschaffen. Dabei ist allerdings nicht nur die Rede von mehr Schiffen und mehr Terminals. Groeneveld: „Es gibt immer mehr Personalengpässe. Wir sollten also neutraler über Digitalisierung und Robotisierung nachdenken, ohne das althergebrachte ‚njet‘ der Gewerkschaften. Schließlich müssen wir alle den Mut haben über unseren eigenen Schatten springen, um dieses Problem zu lösen.“

Mehr Tiefseekais

Der VRC erwartet 2024 die ersten substanziellen Extraladungen und zusätzlichen Schiffkapazitäten. Groeneveld: „Das wird einen deutlichen Unterschied machen. Allerdings brauchen wir dann selbstverständlich auch mehr Terminalkapazität, um die Warenströme abfertigen zu können. Hinzu kommt, dass die Stadt immer mehr alte Hafenbecken für Wohnungsbau und Freizeit nutzt. Auch für die Pläne im Zusammenhang mit Wasserstoff wird viel Platz gebraucht. Vielleicht wird es einfach Zeit, um ernsthaft über eine Maasvlakte III nachzudenken.“

Nagtegaal: „Genau diese extra Terminalkapazität ist der Grund, aus dem wir als Hafenbetrieb Rotterdam schon jetzt auf eigene Kosten und Gefahr in zusätzliche Tiefseekais im Amaliahafen und in die Erschließung der Container Exchange Route (CER) investieren. Das Wichtigste ist allerdings, dass wir gemeinsam zu einer Lösung kommen. Die Kettenbesprechungen, die vor Kurzem ins Leben gerufen wurden, sind ein gutes Beispiel dafür. Sie sorgen für gegenseitiges Verständnis. Das bietet eine Grundlage für Lösungen.“